FESTSPIELE ZÜRICH 2018
‚SCHÖNHEIT / WAHNSINN‘

 OPERNVEREIN ZÜRICH

 I PAZZI PER PROGETTO – WAHNSINN MIT ABSICHT

 Ein Endspiel
für sieben Opernsänger, fünf Instrumentalisten, einen Dirigenten und drei Schauspieler
nach der Farsa ‚I pazzi per progetto‘ von Gaetano Donizetti und Domenico Gilardoni

 Dr. Darlemont, Leiter eines Pariser Irrenhauses
Rafal Pawnuk

Norina, Darlemonts Nichte
Eva Fiechter

   Oberst Blinval, Norinas Gatte
Jorge Martínez

Eustachio, ein desertierter Militärtrompeter aus Blinvals Regiment
Akseli Vanamo

 Cristina, Blinvals Geliebte
Helen Sherman

 Frank, Darlemonts Diener
Christoph Engel

 Venanzio, Cristinas Vormund
Pascal Ganz

 Ein Wahnsinniger
Ivan Georgiev

 Eine Wahnsinnige
Alexandra Gentile

 Ein anderer Wahnsinniger
Yan Juillerat

 Kammerensemble des Opernvereins

Klarinette
Raúl Castro Estévez

Horn
Karin Yamaguchi

Viola
Gerald Karni

Cello
Rosamund van der Westhuizen

Klavier
Aimi Sugo

 Inszenierung, Dramaturgie und Gesamtleitung
Christian Seiler

 Musikalische Leitung und Koedition Bearbeitung
Caspar Dechmann

 Musikalische Bearbeitung
Peter Bachmann

 Choreographie
Bruno Catalano

 Bühnenbild
Anna Wohlgemuth

 Kostümbild
Isabel Schumacher

 Lichtgestaltung
Michael Omlin

 Produktionsleitung
Dorothy Yeung

 Produktionsassistenz
Daniel Riniker, Theresa Manz

 Regieassistenz
Alexandra Gentile, Elmira Oberholzer

Kostümassistenz
Erika Unternährer

 Ankleidung
Renate Wernli

Maske
Cornelia Kohler, Lea Stalder

 Bauten
Gallus Waldvogel, Matthias Herter

 Technische Leitung und lokales Sponsoring
Kurt Rothacher

 Grafik
Rémy Bourgeois, Theresa Manz

 Fotos
Rémy Bourgeois

 Projektberatung
Frank Horn

 Bearbeitete und zitierte Musikwerke

 Gaetano Donizetti
‚I pazzi per progetto – farsa posta in musica‘
Larghetto in C-Dur ‚Una furtiva lacrima‘
Walzer in C-Dur Nr. 2
‚Lucia di Lammermoor – dramma lirico in tre atti‘:
Arie ‚Spargi d‘ amaro pianto‘
Sextett ‚Chi mi frena‘
Zitat aus: ‚Pia de‘ Tolomei – tragedia lirica in due parti‘

 Giuseppe Verdi
‚La Traviata‘ – Preludio

 Richard Wagner
‚Tristan und Isolde‘ – Vorspiel

 und weitere Zitate

 

I pazzi per progetto – Wahnsinn mit Absicht
Ein Opern-Endspiel zwischen Schönheit und Wahnsinn

Zum Doppelthema der diesjährigen Festspiele Zürich ‚Schönheit / Wahnsinn’ passt Donizettis Opernfarce ‚I pazzi per progetto’ hervorragend: das Werk stellt mit dem Austragungsort der Handlung, einem Pariser Irrenhaus, den Wahnsinn inhaltlich ins Zentrum, andererseits steht die Kunstform Oper exemplarisch für das Schöne des Kunstwerks – ganz im Sinne von Friedrich Schillers Diktum „Und das Schöne blüht nur im Gesang“ im Gedicht ‚Antritt eines neuen Jahrhunderts‘. Die Oper stand im 19. Jahrhundert – nach Massgabe ihrer gesellschaftlichen Anerkennung – an der Spitze der musikalischen Gattungen, und Donizetti war einer der wichtigsten Opernkomponisten des Belcanto, eines bis etwa 1840 bevorzugten Gesangsstils der Oper. Das Doppelthema der Festspiele stimuliert die Lust am freien (und befreienden) Umgang mit der Oper, bietet die Narrenfreiheit, die Konventionen und Benimm-Regeln im Umgang mit der Oper und ihren singenden Protagonisten zu sprengen,   die berückende Schönheit der hermetischen Welt des Belcanto – wörtlich: schönen Gesangs – sowohl zu feiern wie szenisch in Frage zu stellen, eine ‚dialektische Ambivalenz’ zu evozieren (wie zu provozieren). Interessanterweise findet sich schon im Originallibretto der ‚Pazzi’ von Domenico Gilardoni ein Hinweis auf den ambivalenten Charakter ‚von allem’:

BLINVAL
Adunque è tutto equivoco. / Also ist alles doppeldeutig.

EUSTACHIO
Mi creda è tutt’equivoco. / Glauben Sie mir, es ist alles doppeldeutig.

BLINVAL
Ebben, la forza il vero scoprirà. / Gut, die Gewalt wird die Wahrheit aufdecken.

Bemerkenswert ist der Schluss, dass es ‚die Gewalt’ ist, die schliesslich die Wahrheit aufdecken wird. Kurz zuvor hatte Oberst Blinval Eustachio als seinen desertierten Trompeter entlarvt, dieser seinen Vorgesetzten aber im schlauen Gegenzug auf eine noch viel wichtigere Doppeldeutigkeit hingewiesen: darauf, dass sich hinter der Figur Blinval ein Sänger verbirgt:

BLINVAL
Se parla di ritratto
conforme e somigliante, anch’io le dò per fatto
che il corpo, il suo sembiante presentano l’estratto
d’un celebre cantante
che Napoli lasciò
e a Londra se n’andò,
per far quella pecunia
ch’io vedo sì e no.

EUSTACHIO
Wenn Sie von einem getreuen und ähnlichen Porträt sprechen,
kann auch ich Ihnen versichern,
dass Ihr Körper, Ihre Erscheinung die Quintessenz
eines berühmten Sängers darstellen,
der Neapel verliess
und nach London ging,
um jenes Geld zu machen,
das ich sehe und nicht sehe.

Diese Bemerkungen nehmen wir ernst und fassen ‚I pazzi per progetto’ nicht nur als ein Stück Musiktheater auf, in dem sich Figuren einer Handlung und die sie darstellenden Sänger in einer Irrenanstalt begegnen. Die Nervenklinik, wo man den Wahnsinn mit Belcanto zum Ausdruck bringt, wird somit zur bedrohten Bastion einer der letzten noch weitgehend intakten Kunstwelten Europas, der Opernwelt. Die Musik, die Oper und ihre Sänger nähren die Sehnsucht nach Schönheit und emotionaler Wärme, um sich gegen die Kälte, die in verstärktem Masse durch die Welt geht, zu schützen – und an dieser Wärme gilt es sich zu laben, koste es, was es wolle. Doch die heile verrückte Welt der sieben Sänger ist nicht nur von aussen bedroht: ihnen stellen wir drei Schauspieler und Performer gegenüber, die ‚echten’ Wahnsinnigen der Anstalt. Einer der drei meint, der berühmte Opernkomponist Gaetano Donizetti zu sein, eine andere Patientin identifiziert sich mit Donizettis Gattin Virginia Vasselli und ein weiterer Anstaltsangehöriger nimmt sich als ‚Geist, der stets verneint’ wahr und personifiziert Donizettis innere und äussere Widersacher. Wie es Donizetti in seiner schriftlichen und wohl auch mündlichen Kommunikation zu tun pflegte, wechseln die drei Anstaltsinsassen in ihren Äusserungen sprunghaft von einer Sprache zur anderen, in unserer Fassung zwischen Italienisch, Französisch und Deutsch (auch die Figur der Cristina verhält sich sprachlich ‚verrückt’, indem sie laufend zwischen Italienisch und Französisch changiert). Dieses ‚trio infernal’ kümmert sich nun einen Deut um die Wahrung der Kunstform Oper, es stört die verrückt spielenden Opernsänger bei der reibungslosen Abwicklung ihres musikalischen Wahnsinnsgeschäfts. Doch auch das Instrumentalquintett und der Dirigent, welche für die Durchführung der Oper Verfügung stehen, sind Patienten von Dr. Darlemonts Irrenhaus, können demzufolge genau so wenig einen störungsfreien Ablauf des Ganzen garantieren. Sind selbst die Sänger Geistesgestörte, die in der Anstalt eine Aufführung von Donizettis Oper für ‚gesunde’ Besucher zu realisieren versuchen? Dr. Darlemonts Hobby ist es, den Schädel Donizettis als Kopf eines geisteskranken Genies zum Fortschritt der Wissenschaft zu untersuchen. So geraten Schein und Sein in mehrfacher Doppeldeutigkeit ins Wanken. Die Protagonisten der Oper sind indes nicht nur von innerem, sondern auch von äusserem Wahnsinn bedroht: draussen wütet der ungleich grössere Wahnsinn des Krieges, vor dem der Deserteur Eustachio geflüchtet ist.

‚I pazzi per progetto’, 1830 in Neapel uraufgeführt, gehört zu den wenig bekannten Werken Donizettis mit der Gattungsbezeichnung ‚Farsa’ und ist musikalisch eine gekonnte und ansprechende Mixtur von musikalischer Selbstironie, melodischem Witz, Dynamik in der Tradition Rossinis und einer Prise Zynismus des Komponisten, der – wie die Figur des Arlecchino aus der Commedia dell’arte – aus Bergamo stammte. Stilistisch weist die Gattung ‚Farce’ schon seit ihrer Entstehung im Mittelalter eine Doppelbödigkeit auf, welche den Ambivalenzen unseres Stücks hervorragend entspricht: einerseits die komische Oberfläche mit ihrer betonten Körperlichkeit, Artistik und Derbheit, andererseits die unterschwellige Ebene, die eine abgründige Welt erfahrbar macht, welche nicht mehr rational geordnet, für den Verstand nicht mehr fassbar erscheint. Bezeichnenderweise haben Vertreter des absurden Theaters wie Ionesco und Beckett ihre Stücke gerne ‚Farce’ genannt. Das Auftrumpfen des Irrationalen, Orientierungslosigkeit, Unübersichtlichkeit sind Aspekte unserer Gegenwart; es gibt heute vermehrt Stimmen, die sie mit der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und jenem ‚Tanz auf dem Vulkan’ vergleichen. So wollen wir Donizettis ‚Wahnsinn mit Absicht’ nicht eindimensional in die Gegenwart versetzen, sondern uns ästhetisch und gestisch von jenen noch dem 19. Jahrhundert zugewandten Jahren inspirieren lassen, zu welchen die Hierarchie und das Verhalten der Figuren der Opernfarce viel besser passen. Die ‚dämonische Leinwand’ der expressionistischen Stummfilme, die Farcen der berühmten Filmkomiker der Orientierung suchenden Zeit nach dem ersten Weltkrieg sind eine reiche Inspirationsquelle. Entstehen soll ein tragikomisches Opern-Endspiel, das amüsiert und nachdenklich stimmt.

Christian Seiler

 

Gedanken zum musikalischen Konzept

Donizetti schrieb über ein Dutzend ernste Opern über den Wahnsinn, aber kaum jemand weiss, dass er auch eine Farce geschrieben hat, die in einer Irrenanstalt spielt und in der gleich mehrere Charaktere vom Wahn besessen sind oder diesen fingieren. Dabei sind die Grenzen oft fliessend und der Wahnsinnige, der vorgibt wahnsinnig zu sein, kann plötzlich ziemlich normal sein.

Die Musik ist typischer Opera-buffa-Stil, wie wir ihn von Donizetti kennen und lieben: Sein virtuoses, oft rasendes Parlando wechselt sich ab mit Momenten echter Sehnsucht, gespieltem Pathos, rasender Wut und zitternder Angst. Immer wieder findet man Gelächter, noch häufiger als in den Singstimmen im Orchester.

Die Besetzung ist in klassischer Hierarchie angeführt von der Sopranistin, der Primadonna des Stücks. Sie bekommt auch ihre typischen zwei Arien“, während der Rest des Nummern sich auf die Interaktion der Charaktere in Ensembles fokussiert, in Duetten, Quartetten und Septetten: Da wird geflirtet, geschmeichelt, gefleht, gedroht und gestritten, dass die Funken stieben.

Die „seconda donna“ ist ein Mezzo. Diese resolute, sinnliche junge Frau soll von ihrem Vormund in unserem Irrenhaus interniert werden, da dieser an ihr Erbe gelangen möchte. Sie erklärt so wahnsinnig eloquent, warum sie nicht wahnsinnig sein kann, dass man nie ganz sicher ist, ob man ihr glauben kann. Sie ist in den Mann der Primadonna verliebt, der zwar nicht interniert ist oder werden soll, aber der von allen wohl der Wahnsinnigste ist und den man lieber hinter sicheren Mauern wüsste. Nicht zufällig ist er ein Oberst.

Um diese zwei Damen herum sind fünf Herren gruppiert und merkwürdigerweise gibt es darunter keinen Tenor, nicht einmal einen tiefen Bass. Wir haben also fünf stimmlich recht ähnliche Männerstimmen und da Stimmlagen in Opern nach alter Tradition mit Alter und Typen assoziiert werden, kann man davon ausgehen, dass Donizetti diese Herren in einem ähnlichen mittleren Alter und vielleicht sogar als ähnliche Typen zeichnen wollte. Und obschon sie ganz unterschiedliche Positionen haben, als Irrenhausdirektor, als Offizier, als Zöllner, als Diener und als desertierter Militärtrompeter, mag er damit andeuten, dass sie eigentlich gar nicht so unterschiedlich, am Ende womöglich auswechselbar sind. Vielleicht macht es sogar für die Damen keinen grossen Unterschied, welchen Herrn sie am Ende bekommen. Diese Ambiguität wird in unserer Version noch unterstrichen, wenn Cristina ihr geheucheltes Liebesduett mit Eustachio (den sie bezirzt, um so den Kontakt zu Blinval herzustellen) schliesslich mit allen anwesenden Herren singt, mit einem nach dem anderen.

Neben solchen Umverteilungen der Gesangslinie gibt es aber in unserer Produktion noch viel weitergehende Eingriffe in die Partitur: Das originale, volle Orchester ist für ein nur fünfköpfiges Ensemble bearbeitet. Diese sind ebenfalls Patienten der Irrenanstalt und Teil der Handlung, mitsamt ihrem Dirigenten. Damit wird das dichtgewobene Kammerspiel der sieben Sänger konsequent auf die beteiligten Musiker ausgedehnt. Alle zusammen sind eine Schicksalsgemeinschaft in einem Haus ohne Ausgang.

Die Instrumente unserer Produktion sind Bratsche, Cello, Klarinette, Horn und Klavier. Das Klavier ist dabei der unverzichtbare Allrounder, der hundert Instrumente imitieren, an lauten Stellen Klangfülle produzieren und in den Rezitativen die Sänger begleiten kann. Da wir auf die Violine, traditionell das wichtigste Instrument im Opernorchester, verzichten, übernimmt die Bratsche deren Rolle, mit ihrem dunkleren, wärmeren, manchmal nasalen Klang. Wenn sie die Violinpassagen in der Originallage spielen muss, fordert dies vom Spieler eine aussergewöhnliche Anstrengung, was zweifellos der Absicht des Arrangeurs entspricht.

Das Cello hat das weiteste Klangspektrum aller Streichinstrumente und kann dadurch viele andere Instrumente vertreten, darunter auch den fehlenden Kontrabass.

Unter den Holzblasinstrumenten hat keines eine grössere Bandbreite an Umfang, Klang und Dynamik als die Klarinette. Dass unser Klarinettist auf vier verschiedenen Klarinetten spielt, erweitert die Möglichkeiten zusätzlich.

Diese Quintett-Formation hatte keinen Vorläufer im Opernrepetoire, dagegen einen sehr klaren anderen Vorläufer: Schönbergs Pierrot Lunaire für Geige, Cello, Flöte, Klarinette und Klavier. Unsere Version mit Bratsche und Horn statt Geige und Flöte ist zwar weniger glitzernd und scharf als dieses Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts, dafür introvertierter, wärmer, verletzlicher.

Unsere Bearbeitung von „I pazzi“ geht aber noch viel weiter als das Arrangement des Orchester: Christian Seiler, Peter Bachmann und Caspar Dechmann zielten darauf hin, dass der in Text und Musik angelegte Wahnsinn nicht nur eine theatralische Behauptung bleibt, sondern für die Künstler und das Publikum spürbar wird. Dabei gibt es Unterbrüche in der Musik, wiederholte Anläufe, Loops, bei denen die Sänger in einem Gefühl stecken bleiben und kreisen, ohne einen Ausgang zu finden. Dazu kommen verschiedene Zitate. Eines von Donizetti, das Verdi wörtlich „gestohlen“ und damit unsterblich gemacht hat. Ein Walzer, den Donizetti beschwingt für Klavier geschrieben hat, wird hier umgewandelt zu einer verletzlichen, nostalgischen Meditation der Sänger, die lange unbegleitet im Raum schwebt. Wichtig war dabei, dass unsere Eingriffe sinnvoll aus Donizettis Musik heraus entwickelt wurden. Sie sollen nicht als Zusatz oder „Gag“ wirken, sondern aus den Figuren heraus quasi spontan entstehen. Es wird auch Momente geben, wo das Publikum nicht sicher sein wird, ob das Geschehen auf der Bühne wirklich so geplant war, ob ein Künstler etwas in seiner Rolle tut oder ob er persönlich reagiert. Diese schon im Original angelegte Doppelbödigkeit der Handlung wird hier szenisch wie musikalisch spürbar.

Caspar Dechmann

 

Donizettis Dämonen – Eros und Wahnsinn

Gaetano Donizetti (1797–1848) gehörte neben Rossini und Bellini zum Dreigestirn, das die italienische Oper zu Weltbedeutung führte. Im Belcanto-Taumel der ersten Jahrhunderthälfte repräsentierte er den Opernkomponisten schlechthin, der alles, was als operntypisch galt, auf brillante Weise (und mit 64 vollendeten Opern quantitativ seine Kollegen überragend) erfüllen konnte; er war Erbauer einer in sich geschlossenen Opernwelt mit grosser Sogkraft.

Im Leben war Donizetti ein von vielen Dämonen gejagter und geplagter Mann. Er wuchs in zwei dunklen unterhalb des Straßenniveaus gelegenen Kellerräumen ausserhalb der Stadtmauern Bergamos auf, haderte mit seiner kleinbürgerlichen, ärmlichen Herkunft und behielt zeitlebens eine zwiespältige Beziehung zu den Eltern: er verbot ihnen, bei den Premieren seiner Opern zu erscheinen und informierte sie erst nachträglich über seine Hochzeit mit der wohlhabenden römischen Bürgerstochter Virginia Vasselli, die er ihnen nie vorstellte. Trotz seiner immensen Schaffenskraft und kompositorischen Genialität blieb seine Tätigkeit als Opernkomponist für ihn stets ein Kampf gegen übermächtige Impresarios und engstirnige Zensur, um einen ihm angemessen scheinenden Verdienst, um Aufträge in den grossen Kulturmetropolen Europas und gesellschaftliche wie künstlerische Anerkennung. Mit seinem nicht minder ehrgeizigen und genialen Kollegen Vincenzo Bellini trug er eine jahrelange kompositorische Fehde aus.

Wie es sein Zeitgenosse Heinrich Heine pointiert formulierte, muss Donizetti ein ausgesprochener Erotomane gewesen sein. Auch nach seiner Hochzeit unterhielt er, besonders mit Sängerinnen seiner Opern, unzählige sexuelle Beziehungen, obwohl er schon früh unter ersten Symptomen einer Syphilis-Ansteckung litt. Seine Frau, auf die er die Krankheit übertrug, erlebte drei Totgeburten, bevor sie, erst achtundzwanzigjährig, in Neapel an Cholera starb. Das Thema der sexuellen ‚rasenden’ Leidenschaft jenseits geltender moralischer Grenzen – verbunden mit einer Katastrophen-Dramaturgie, die auf den Vollzug des Unglücks hinstrebt – war Donizetti nicht minder in seinen Opern ein Anliegen. So schildert er in seiner Oper ‚Pia de’ Tolomei’ (1837), aus der Verdi ein musikalisches Motiv in seine ‚Traviata’-Ouvertüre übernahm, einen Triebverbrecher als gequälten Menschen, der mit aller Donizetti zu Gebote stehenden Kunst entschuldigt wird; „wahre Exzesse der Triebhaftigkeit schütteln die Pia-Klänge“, wie sein Biograph Robert Steiner-Isenmann herausstellt. Mit Salvatore Cammarano, der schon für die ‚Lucia di Lammermoor’ (1835) das Libretto schrieb, hatte er endlich einen Mitarbeiter gefunden, welcher das Wunschbild „einer brutalen, psychologisch treffenden lyrisch-dramatischen Oper mit den Themen Liebe, Tod und Wahnsinn“ zu realisieren vermochte.

Tatsächlich hat kein Opernkomponist den Wahnsinn – in 12 Werken explizit – so oft thematisiert wie Gaetano Donizetti. Die ‚Farsa’ ‚I pazzi per progetto’ spielt in einem Pariser Irrenhaus; eine tragische Ironie des Schicksals liess ihn am Ende des Lebens, im letzten Stadium der Geschlechtskrankheit, selbst zum Insassen eines Irrenhauses nahe von Paris werden.

Christian Seiler